Kaum ist es acht Uhr, schon kündet es Plusgrade an. Die Morgenstunden lassen den Vorfrühling ahnen. Peter Frühsammer geht in den Garten vor dem Haus. Im Herbst hat er den Brokkoli geerntet, die Pflanze aber stehen gelassen. Nun zeigen sich links und rechts des dicken Stiels kleinen Röschen. Hellgrün, aber viel schärfer als der dunkle, ausgereifte Kopf. Eine Überraschung. „Die Frühphase der Pflanze ist genauso spannend wie die Reifephase“, sagt Peter.
Autor Oliver Zelt, Foto ©Marina Grau
Seine Frau Sonja ist Chefin im Berliner Restaurant „Frühsammers“ und legt die zeitige Ernte nur kurz blanchiert als besonderen Clou auf den Teller. Später geben selbst die meist gelben Brokkoliblüten einen „wunderbaren Geschmack“.Die Berliner Meisterköchin kann sich auf die eigene Scholle verlassen. Wer liefert im Frühjahr schon die weißen Blüten vom aufgeschossenen Feldsalat? Niemand, außer ihr selbst.
Auf dem Acker stehen noch verdorrte Fenchelstauden aus dem letzten Jahr. An deren Fuß schlägt es neu aus, zarte kleine Fenchelschiffchen und noch zarteres Grün. Daraus einen Sud einkochen und den zu Krustentieren servieren, „herrlich“, schwärmen Frühsammers.
Die jungen Blätter und Schösslinge aus alten Strünken bringen neuen Geschmack ins fine dining. In der ruhigen Gartensaison treibt Frisches aus, weil das Alte stehen blieb, sehr zur Freude der Feinschmecker. Was scheinbar schlummert erwacht mit milderen Temperaturen recht schnell wieder und entwickelt schnell einen glamourösen Geschmack. Das erste noch grazile Grün hat nicht nur eine Ahnung von Aroma, sondern oft schon einen Wumms an Würze.
Wunderbar, wie eine andere Sicht aufs Wachsen den Gaumen austrickst und vermeintlich banalen Abfall zu einer regionalen Köstlichkeit macht. Es gilt nur, mutig zu sein und ein paar Radieschen etwa nicht herauszuziehen, sondern sie wachsen zu lassen bis zwar die Frucht unter der Erde hölzern ist, sich dafür aber süße Schoten als Samenkörper gebildet haben. Für ein außergewöhnliches Aha bei den Gästen.
Jens Rittmeyer, Chef im Buxtehuder „N 4“ ist so oft es geht draußen bei seinen Bauern, denen er vertraut. Die liefern ihm nicht nur bestes Gemüse, sondern auch ihr Wissen. Bauern wie Marco Seibold aus Syke oder Marlis Palatini aus Soltau hätten schon viel Neues in seine Küche gebracht. „Die lassen abgepflückte Rosenkohl- und Grünkohlstauden auf dem Acker stehen und bringen mir dann immer wieder kleine frische Blätter, die daraus schießen“. Selbst der Grünkohlstiel ist nicht nur kompostreif, sondern beeindruckt als falscher Kohlrabi. Das geht nur, wenn die Landwirte die Saison nicht mit dem Erntefest beenden und danach alles unterpflügen. Dann kann Rittmeyer in der vermeintlich trostlosen Saison am Anfang des Jahres mit saisonalem Gemüse auftrumpfen.
Ähnliches kann auch Andree Köthe vom Nürnberger „Essigbrätlein“ anbieten. Geschossenen Lauch gibt es nirgendwo zu kaufen, Köthe hat ihn. Seit Jahren darf er bei den Bauern zur Nachernte aufs Feld und findet Wurzeln, Schösslinge, Blätter und Stiele, die stilprägend für die Gemüseküche des „Essigbrätleins“ sind. Ausgewachsenen Blumenkohl, woanders höchstens noch als Tierfutter für tauglich befunden, serviert Köthe als kulinarische Kostbarkeit genauso wie hell leuchtende Rotkohltriebe.
Die Köche wollen nicht nur das Ausgereifte, sondern erkennen, dass auch Ausgetriebenes einen erstaunlichen Geschmack hat. Es ist wie ein kulinarischer Forschungsauftrag, den sich einige Köche selbst gegeben haben: wie setze ich den Geschmack von Gemüse ein, das nicht ladenthekenreif geliefert wird?
Im Berliner Restaurant „Nobelhart&Schmutzig“ sind die Gäste über einen geschossenen Salat verblüfft, den Bauern einer Wildgärtnerei im brandenburgischen Rüdnitz lange im Gewächshaus stehen ließen und der nun eher frisch gurkig schmeckt.
Nicht nur die Gilde der Top-Köche ist umtriebig. Hobbygärtner, Hoflieferanten und Selbstversorger wissen um das besondere Gemüse, vom dem es bislang äußerst wenig gibt, weil kaum jemand den Mut hat, seine Pflanzen auf dem Feld stehen zu lassen. Von offizieller Seite wird das ohnehin schief angeschaut. Die Bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft merkt an, „zu weit entwickelte Produkte sind nicht marktfähig“. Hierunter fielen etwa „geschossene Salate“.
Nicole Steinfurth ist die Mahnung aus Bayern egal. Sie versorgt sich und ihre Familie aus dem eigenen Garten. Auf ihrem Hof in Mecklenburg-Vorpommern nahe der Elbe, den sie „Biotopica farm“ nennt, lässt sie im Herbst viele Gemüsepflanzen mit ihren Wurzeln im Boden stehen. „Salate, Fenchel, Stangensellerie, Frühlingszwiebeln und Kohl werden immer wieder neue Blätter bilden“, schreibt sie in ihrem Blog. Kohl dem, der ihn mutig schießen lässt.